Tagebuch für ein gutes Autorenleben

Früher war es gang und gäbe. Jeder hat es gemacht.

Goethe gern von unterwegs. Max Frisch als Akt der Selbstverteidigung und Kurt Cobain, um seine dunklen Gedanken loszuwerden. Rudi Dutschke vermutlich um mit sich selbst stumme Debatten auszutragen und um seinen Idealismus festzuhalten. Anne Franks kennt jeder. Anne Franks ist berühmt.

Und jetzt muss ich wohl nicht mehr sagen, denn es ist klar, worum es geht. Das Tagebuchschreiben.

Einst weit verbreitet und normal, dann ins Lächerliche gezogen und als Angewohnheit naiver, etwas tumber, romantisch verklärter Teeniemädchen abgetan erlebt das Tagebuch ein Revival.

Wenn auch in einer etwas veränderten Form: Bullet Journaling.

Allerdings, durch die lange Abwesenheit der Tagebücher, scheinen jetzt mehr Fragen denn je, um das Schreiben eines Tagebuchs zu kursieren. Plus eine zusätzliche Frage, nämlich ob das Tagebuch, das Bullet Journal oder das Journaling das Gleiche oder total unterschiedliche Dinge sind?

Meinen ersten Kontakt mit dem Tagebuchschreiben hatte ich im Alter von etwa fünf Jahren.

Ich begleite meine Mutter, die für meine älteste Cousine, ein in grünes Leder gebundenes Buch im A5 Format in einem ziemlich düsteren muffigen Schreibwarengeschäft erstand.

Das Geschäft war mir egal. Aber das Buch fand ich cool und hätte gern selbst eins gehabt, um darin herumzukritzeln. Allerdings war meine Mutter nicht bereit, mir auch eins zu kaufen. Stattdessen wurde ich darüber belehrt, dass das Buch nicht für Kritzeleien wäre, sondern als Geheimnisträger und dass ich, wenn ich alt genug sei, auch eins bekommen könnte. Wenn ich dann noch wolle.

Sechs Jahre später war es dann so weit. Am Nikolaustag 1991 hatte ich tatsächlich so ein Buch in meinem Stiefel. Zugegeben, es war nicht grün und nicht aus Leder. Es waren schließlich die 90ziger. Entsprechend war mein Tagebuch aus aufgeschäumten Plastik in Pink und Hellblau mit einem kawai Einhorn auf dem Deckel, aber Einhorn oder nicht, es war meins. Und es war das erste Tagebuch von vielen. Bis heute haben sich drei ganze Regalmeter von diesen Büchern bei uns angesammelt. Eines unterschiedlicher als das andere, aber allen ist gemein, dass sie immer ein Faktor des Ärgers für alle Umzugshelfer sind. Plus: ein Faktor des Erstaunens sämtlicher Besucher, obwohl ich finde, Tagebuch zu schreiben ist nicht schwer und irgendwie das Normalste der Welt. Trotzdem werden die vollgeschriebenen Blankobücher jedes Mal wie eine Kuriosität betrachtet. Dabei ist Tagebuchschreiben gerade in aller Munde. Auch wenn man sagen muss, dass damit in den meißten Fällen das Führen eines Bullet Journals gemeint ist, was mit dem Tagebuchschreiben so viel gemeinsam hat wie ein Zebra mit einem Pferd. Ja, auch ein Bullet Journal kann Elemente des Tagebuchs enthalten. Betonung auf kann! Überhaupt Betonung auf KANN.

Denn egal ob Bullet Journal oder good old fashioned Tagebuch es sollte immer bei allem kann sein, niemals muss. Und um gleich der ersten Frage zu begegnen, die hier groß im Raum steht. Nein, man muss nicht jeden Tag schreiben, wenn man nicht will.

Doch schlagen wir den Bogen zu mehr Fakten.

Ein Tagebuch, was ist das? Und wo ist der Unterschied zum Bullet Journal?


Tagebuch Definition

Ein Tagebuch ist ein autobiographischer Bericht. Ein Selbstzeugnis. So die Definition.

Heißt auf gut Deutsch?

Du schreibst es. Du berichtest über deinen Alltag, was dich bewegt, was dich interessiert, was dich aufregt. In deiner Sprache. Nur für dich. Denn ein Tagebuch ist nicht mit dem Hintergedanken der Veröffentlichung geführt. Auch wenn es natürlich berühmte veröffentlichte Tagebücher gibt. Die durchaus für einige Skandale gesorgt haben, denn wenn ein Tagebuch ein Bericht von dem ist, was du erlebst, in deiner Sprache und du dort deine Meinung ungeniert vertreten kannst, kann es sein, dass so mancher Zeitgenosse nicht glimpflich davon kommt. Aber gut, ein Tagebuch ist eben ein subjektiver, kein objektiver Bericht. Weswegen man, wenn man ein Tagebuch als eine Quelle für irgendwas nutzt, auch immer Vorsicht walten lassen sollte. Tagebücher können ehrlich sein, müssen aber nicht und sie geben eine gefärbte Sich auf die Geschehnisse wieder.

Wo ist jetzt aber der Unterschied zum Bullet Journal, von dem man jetzt so viel liest und das jeder zu Führen scheint?

Bullet Journal Definition

Ein Bullet Journal dient eher der persönlichen Organisation als denn der eigenen Nabelschau. Daher enthält ein Bullet Journal sehr oft einen Kalender und neben diesem noch oft Möglichkeiten zum Verfolgen von Gewohnheiten, Zuständen, Erfolgen. Manchmal sieht man auch freie Blätter zum Anfertigen von Skizzen oder auch um die eine oder andere Zeile frei zu schreiben, aber und das ist der große Unterschied, das freie Schreiben hat wenig Raum im Bullet Journal. Es dient dazu den Überblick zu wahren, Dinge auf einen Blick zu sehen. Es ist mehr als ein Tagebuch. Funktionaler als ein Tagebuch.


Journaling

Eine weitere Form des Tagebuchschreibens ist das Journaling.

Auch dieses ist eher ein Tagebuch im klassischen Sinne, aber beim Journaling geht es nicht um das einfache drauflos schreiben. Beim Journaling geht es um die Entwicklung der Persönlichkeit, dem Überwinden von traumatischen Erlebnissen oder aber störenden Gedankenmuster.

Durch das Schreiben über das Erlebte sollen Gefühle und Erinnerungen verarbeitet werden und so verblassen. Journaling wird daher Traumapatienten, aber auch Depressiven empfohlen. Weitere Unterschiede zu einem klassischen Tagebuch sind, dass es im Rahmen einer Therapie geschrieben wird und das der Schreiber die Einträge mit dem Therapeuten teilt. Es ist nicht nur für eine Person geschrieben.

Also drei unterschiedliche Formen des Tagebuchschreibens, drei unterschiedliche Zwecke. Gemein ist allen, dass man sein Leben organisiert und seine Erlebnisse verarbeiten möchte.

Doch warum ist etwas, das so normal ist, so unbekannt und mit so vielen Fragen behaftet?

Warum man sich das antun? Zum Schreiben muss man sich schließlich Zeit nehmen.

Wo liegt der Vorteil eines Tagebuchs?

Sollte man als Autor eines führen? Immerhin gibt es zahlreiche Autoren, die das getan haben und deren Tagebücher später veröffentlicht wurden und es selbst zu Ruhm brachten.

Wie schreibt man überhaupt Tagebuch? Gibt es bestimmte Formen, die man beachten sollte? Muss man jeden Eintrag mit „Liebes Tagebuch“ beginnen? Muss man täglich schreiben und muss man per Hand schreiben oder kann man auch ein Tagebuch am Computer führen?

Wann ist ein Bullet Journal eher was für mich?

Als erstes wieder der Verweis auf das KANN.

Man kann, du kannst!

Alles wie du willst, wann du willst.

Bei einem Tagebuch gibt es kein richtig oder falsch. Daher muss man auch nicht täglich schreiben. Und nein, es gibt auch keine feste Seitenzahl, die man schreiben muss.

Gleiches gilt für die „Anrede“. Man muss die Beiträge nicht mit „Liebes Tagebuch“ oder, wie Anne Frank, mit „Liebe Kitty...“ eröffnen. Es gibt keine Formen, die man beachten muss. Besorg dir ein Blankobuch und lege los. Berichte über das, was dir begegnet und gibt deine Meinung dazu ab. Wenn du gern vom Leder ziehen möchtest, dann nur zu. Das Tagebuch ist der Ort, an dem du das ohne Hintergedanken oder Schuldgefühle tun kannst. Ebenso kann dein Tagebuch auch zur Erkenntnis dienen. Wenn du Gedanken festhältst, werden sie dir präsenter und nach und nach wird es einfacher, die Muster zu erkennen. Gibt es Muster, die du lieber vermeiden möchstest, Tagebuchschreiben kann dabei helfen.

Auch die Art wie man schreibt ist frei.

Ich schreibe lieber per Hand. Andere ziehen den Computer vor. Was auch immer dich anspricht, nutze es.

Und zur Frage ob das Tagebuch etwas für dich ist oder eher das Bullet Journal, kann ich nur sagen, es kommt darauf an, was du erreichen möchtest.

Geht es dir darum, deinen Gefühlen freien Lauf zu lassen, dich mal so richtig auszukotzen, nachzudenken auf dem Papier oder am Computerbildschirm? Dann probier es mit dem Tagebuch. Möchtest du einen Überblick über deine Verpflichtungen und Termine behalten, deine Erfolge oder Gewohnheiten, die du pflegen möchtest im Auge behalten, aber das freie Schreiben liegt dir nicht so wirklich? Dann probier es mit dem Bullet Journal.

Auf die Frage, ob man als Autor / Autorin unbedingt Tagebuch führen sollte, kann ich keine Antwort geben. Das muss jeder / jede selbst entscheiden. Irgendwie liegt es nah, dass jemand der gern schreibt auch ein klassisches Tagebuch führt, allerdings wäre auch ein (therapeutisches) Journal in Form eines Erfolgstabgebuchs nicht falsch, da Schreiben ein einziger Marathon ist, bei dem das Selbstbewusstsein gern auf der Strecke bleibt.

Zum Abschluss noch was: Oft werde ich gefragt, worüber man schreiben soll. Darin schwingt indirekt die Annahme mit, dass das eigene Leben doch viel zu dröge ist, um festgehalten zu werden. Warum sollte jemand lesen wollen, wie es auf Arbeit war, wie lang man im Supermarkt angestanden hat, wie man auf die neuesten Finten von Chefs und Kollegen reagiert?

Auf die Annahme kann ich auf zwei Arten reagieren. Zum einen als gelernte Historikerin. Als solche kann ich festhalten, dass Tagebücher ein sehr wichtiger Bestandteil in der Geschichte sind. In den englischsprachigen Ländern sicher noch mehr als in Deutschland, aber auch hierzulande sind Tagebücher, die zur oral history gezählt werden, wichtige Quellen, um sich einen Eindruck vom Leben in der Vergangenheit zu beschaffen.

Zum anderen kann ich auch als Privatperson reagieren und sagen, schreibe Tagebuch, um loszulassen, was dich sonst kaputtmacht. Mit Hilfe des Tagebuchschreibens bekommst du Gedanken aus dem Kopf, negative Gefühle. Ein (therapeutisches) Tagebuch kann dabei helfen Denkmuster zu Erkennen und zu Durchbrechen. Ein Bullet Journal kann helfen Schmerzmuster aufzudecken, auch gegenüber Ärzten als „Beweis“ verwendet werden, wenn es nötig werden sollte. Natürlich ist weder das Tagebuch, noch das Bullet Journal noch das Therapietagebuch ein Allheilmittel und für jeden geeignet, aber wenn es dir konkret hilft, warum nicht? Die Zeiten sind alles Mögliche aber kein Ponyhof. Warum dann nicht alles an Hilfe annehmen das man kriegen kann?

Außerdem fangen wir doch mal bei dem Gedankengang an sich an: Warum sollte irgendwer irgendwas über mein Leben lesen wollen?

Gegenfrage: Warum nicht? Hältst du dich für so uninteressant und für so unwichtig? Autsch. Ich glaube, so lange es dir liegt Tagebuch zu führen, solltest du es mit der Einstellung gleich dreimal machen. Es sind nicht nur die Staatsmänner, die zählen.

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Statt auf Ohren, was auf die Augen - was ich lese und warum lesen für Autoren wichtig ist

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