Zwischen den Buchdeckeln(Ein Beitrag eigentlich im Rahmen der Literaturtage der KITeraten – Oktober 2025)
Vor drei Tagen hatte ich euch erzählt, wie dieser Text entstanden ist und warum er nie vorgelesen wurde.
Heute darf er seinen Platz finden, hier, zwischen den Seiten, für alle, die Lust haben, ein Stück mit hineinzutauchen.
Zwischen den Buchdeckeln
von Victoria Benner
Dumpf klangen die Schritte auf dem Linoleum. Krallen schabten über die verputzten Wände, ein hohes, metallisch klingendes Kreischen hallte durch den großen Saal, brach sich an den Regalen und wurde von den Metallrahmen vervielfältigt in den Saal zurückgeworfen.
„Paul!“ Emma die an der Hand ihres Bruders mitgezogen wurde, sah über ihre Schulter. „Paul, es kommt näher! Paul da!“
Große Klauen blitzten im Licht der Leuchtstoffröhren auf, ehe diese mit einem lauten Knall platzten. Splitter und Funken regneten wie Feuerwerk nieder. Emma schrie auf und wandte sich ab, da hörte sie ein lautes Ächzen, dann ein Krachen, ein Rauschen wie von einem Wasserfall, als tausende von Büchern aus dem zu Boden gehenden Regal fielen und mit einem Knallen auf dem Boden landeten.
„Paul!“
„Da! Das Regal!“ Paul zerrte heftiger an Emmas Hand. Er streckte bereits im Laufen die Hand aus. Schon strichen seine Finger über den Regalboden, flogen über die Buchrücken, dann griff er zu.
Emma blickte noch einmal über die Schulter. In dem Dämmerlicht der Bibliothek, in den Schatten hinter den Regalen hörte sie ein dumpfes Grollen. Sie sah Bewegungen, wie ein auf und ab von schweren, großen Körpern und immer wieder blitzte etwas auf. Klauen? Zähne? Emma wandte sich rasch wieder ab. Sie wollte es lieber nicht wissen. Wollte sich auf Paul, ihren Bruder konzentrieren, der jetzt das Buch aufriss. Sofort begannen die Seiten des Buches zu flattern als sei ein Vogel darin gefangen.
„Paul?“
„Alles ist gut!“
Ein gewaltiges Brüllen erklang dicht hinter ihnen. Ein Scheppern, doch noch ehe Emma hätte schauen können, was hinter ihr passierte, wurde sie von einem Sog erfasst, in Richtung des Buches gezerrt. Dann wurde es dunkel um sie. Ein lauter Knall von irgendwoher und mit einem Mal wurde sie von einer Böe zu Boden geworfen. Danach herrschte wieder die Schwärze um sie herum. Derart, dass sie nichts mehr sehen konnte. Nicht einmal Paul, dessen Hand sie noch immer in ihrer eigenen spürte.
„Was … was war das?“ Emma versuchte nicht zu weinen, konnte die Tränen aber trotzdem nicht ganz aus der Stimme verbannen. Sie spürte, wie ihr Bruder nach ihr tastete, ihren Arm fand und sie auf die Füße zog.
„Das war das Buch. Es ist zugefallen.“
„Das Buch?“
„Ja, das Buch. Warte.“ Ein Rascheln erklang dicht neben ihr. Das Ratschen eines Reißverschlusses von Pauls Rücksack.
„Hier!“
Ein Lichtkegel erschien in der Dunkelheit, tastete hüpfend über schwarze Wände. Nnimm die!“ Paul drückte ihr die Taschenlampe in die Hand, zog eine weitere für sich selbst hervor und leuchtete in die Richtung, aus der sie eben gekommen waren.
„Ja, zugefallen. Nichts zu machen, der Rückweg ist versperrt. Wir werden weiter gehen müssen.“
Er schob den Rucksack zurück auf den Rücken, griff wieder nach Emmas Hand. „Komm, wir müssen uns beeilen. Sie sind dumm genug die Regale umzuwerfen, aber leider nicht dumm genug nicht auch einen Weg zu finden.“
Langsam schälte sich vor ihnen ein Tunnel aus der Schwärze. Der Lichtkegel von Emmas Taschenlampe zog über Wände, die zuerst nur schwarz aussahen. Doch nach und nach entdeckte Emma hier und da ein Bild, Farbe. Rote Anfangsbuchstaben. Ein sich weiß auf der Schwarzen Wand abhebendes Bild eines Mädchens mit einer spitzen Mütze, einem knielangen ausgestellten Kleid und einem runden Korb am Arm. Hier und da blinkten Wortketten auf wie Glühwürmchen und bei jedem Schritt, den sie tat glühte ihr Schuhabdruck noch kurz auf dem Boden nach, wie wenn sie über nassen Sand gelaufen und dort ihren Abdruck hinterlassen hätte.
„Was suchst du?“
Pauls Lichtkegel huschte die Tunnelwände sorgsam auf und ab.
„Eine Tür.“
„Eine Tür?“ Emmas Stimme klang dumpf.
„Da!“ Pauls Taschenlampe hatte eine halbrunde, kaum hüfthohe Einfassung in der Tunnelwand erfasst. „Da, eine Tür.“
„Müssen wir da durch?“
Paul hatte die Hand nach der Türklinge, die wie ein verschlungenes Blatt geformt war, ausgestreckt, drückte sie, doch nichts rührte sich.
„Mist! Zu.“, meinte er und zuckte die Schultern. „Macht nichts, wir probieren es weiter.“
Emma ließ ihren Lichtstrahl über die andere Seite gleiten. „Paul! Hier auch!“
Eine schief in den Angeln hängende Tür tauchte auf, eher wie eine Wand aus rosa und lilafarbenen Schächtelchen. In ihren Mustern blitzten Tiere auf, ein Schornsteinfeger, ein goldenes Ei.
„Probieren wir es!“
Doch noch ehe Emma die Klinke erreichte, krachte die Tür heraus, prallte gegen die Wand. Ein Brüllen. Klauen, Augen, Zähne. Das Monster stürzte in den Tunnel. Emma schrie, ihre Taschenlampe schlug klirrend auf den Boden.
„Emma!“ Paul packte sie und riss sie fort. Sie rannten, während hinter ihnen die Schritte donnernd näherkamen, bis der Boden selbst zu glühen schien.
„Hier!“ Paul riss eine weitere Tür auf. Eine Welle brach herein, Möwenschreie hallten, Salz lag in der Luft. Das Wasser erfasste sie, riss sie fort. Emma klammerte sich panisch an Pauls Hand, als etwas wie ein Tentakel im Strudel aufblitzte.
„Die Bücher … sie spielen mit uns“, keuchte Paul, während er sie auf trockenen Boden zerrte. Ohne Umsehen rannten sie weiter, bis in der Ferne erneut ein Schimmer auftauchte. Eine weitere Tür.
„Schnell, rein!“ Als Paul sie durch die knallrote Tür schob, wehte ein Wirbel aus rot-goldenen Blättern an ihnen vorbei in den Tunnel. Dann schlug die Tür mit einem Knall hinter ihnen zu und mit einem Schlag fanden sie sich in hellem Sonnenschein wieder. Ein erschrockener Aufschrei hallte durch den knallblauen Himmel und für einen Moment war Emma so von der Sonne geblendet, dass sie schwankte, nichts mehr sah, nur das erschrockene Schimpfen, die Rufe der Möwen und ein dumpfes Dröhnen und Tuckern hörte.
„Wasserflugzeuge!“, flüsterte Paul begeistert. Emma blinzelte. Ihre Augen, die sich langsam an die Helligkeit gewöhnten, zeigten ihr den Umriss eines kantigen Flugzeuges mit Kufen, der langsam, etwas schwankend vom Wasser abhob. Ein zweites Flugzeug tuckerte gemütlich an den Stegen vorbei, an denen weitere Flugzeuge wie Boote vertäut lagen. Es rollte es auf die Startposition, wartete geduldig und erhob sich mit lautem Motordröhnen in die Luft.
„Wo sind wir hier?“ Emma blinzelte, ihre Augen folgten den Wasserflugzeugen, den rot-goldenen Blättern, die noch immer durch die Luft tanzten.
„Keine Ahnung, aber schau, da vorn ist das Buch“ Paul deutete auf ein mit den Seiten auf dem Boden liegendes Buch, um das sich eine Traube von Menschen gebildet hatte, die unter stetigem Schwatzen einer weiteren Person auf die Füße halfen.
Emma warf einen unsicheren Blick auf die Menschentraube, doch da bebte schon der Boden. Ein Grollen, viel lauter als das Brummen der Motoren rollte aus der Ferne heran. Ein Knirschen von Zähnen und das schrille Kreischen von Metallklauen, die über Stein gezogen wurden. Die Monster hatten sie gefunden.
„Los!“ Paul packte Emma, und wieder rannten sie. In das offene Buch, zurück in den Tunnel, während hinter ihnen der Stadtführer zuschlug, dumpf, endgültig.
Sie rannten weiter, hetzten durch den schimmernden Gang aus Seiten. Immer wieder gähnten Ausgänge, lockten mit Licht oder Bildern, doch sie wagten es nicht, hielten sich in der Mitte.
Dann nahm Emma in der Ferne ein warmes Leuchten wahr.
„Paul, was ist das? Noch ein Ausgang?“
„Offenbar!“ Paul hatte ihn bereits angesteuert, griff nach der Türklinke, die nicht mehr war als ein Riegel, den man aufheben musste, um die Tür in einem verwitterten Jägerzaun zu öffnen. Knarrend schwang es sie auf und ohne einen weiteren Blick zurück stolperten sie hindurch, hinein in den Wald. Mit einem Mal waren Bäume, die ihre Wipfel im Wind wiegten. Ein Duft von Harz und warmer Erde stieg um sie herum auf, hüllte sie ein wie eine Decke. Irgendwo über ihnen erklang der Ruf einer Waldtaube. Staub wirbelte auf, als sie den Sandweg hinunterliefen, der vom Zaun weg zu einer Lichtung führte.
Und dann lag es vor ihnen: das Haus.
Ein kleiner Kubus aus schwarz gestrichenem Holz. Die Dachschrägen, Fensterrahmen und die Tür leuchteten in Marienkäferrot. Zwischen den Fenstern unter dem Spitzdach hingen Geweihe und zur Tür führte eine kleine Treppe hinauf, die von Blumenkübeln mit tränendem Herz gesäumt waren.
Emma blieb stehen, die Augen weit, die Brust bebend. „Wo sind wir?“
Paul sah das Haus an, atmete tief durch. „Zu Hause“
Und zum ersten Mal seit Beginn der Flucht waren die Schatten still.
Nachklang
Vielleicht war dieser Text nie für die Bühne gedacht.
Vielleicht sollte er genau hier landen? Zwischen digitalen Buchdeckeln, wo man leise lesen, innehalten, sich verlieren kann.
Danke, dass ihr ihn mit mir teilt.
Wenn ihr wissen wollt, wie der Text entstanden ist und warum er beinahe in der Schublade geblieben wäre, findet ihr die Hintergrundgeschichte hier auf dem Blog.