POV - Point of View
POV hört sich an wie eine Krankheit, hat aber mit Schreiben zu tun.
Um es gleich zu Beginn zu sagen: POV ist die englische Bezeichnung für “Point of View”, also Perspektive oder Sichtweise, aus der eine Geschichte erzählt wird.
Das erste Mal bin ich in englischen Fanfictions darüber gestolpert. Da gab es immer jede Menge Sternchen und dann so verwirrende Überschriften, in denen “Maureens POV” stand. Und, einige Seiten später, las ich “Henrys POV”. Was unter den Überschriften stand war, um meine Verwirrung noch zu steigern, fast gleich. Bis auf kleine Abweichungen. Es dauerte eine Weile, bis ich raffte, dass es auch die gleiche Geschichte oder Szene war. Nur aus der Sicht der jeweiligen Figur geschildert. Nachdem ich das verstand, konnte ich mir auch zusammenreimen, was POV heißen sollte.
Nämlich, dass eine Szene in einer Geschichte aus der Sicht eines bestimmten Charakters geschildert wird. Der Leser sieht das Geschehen durch die Augen einer der Figuren.
Der POV, also die Sicht auf die Szene durch die Augen einer dieser Figuren, kann durch die gesamte Geschichte erhalten bleiben. Gerade im Falle einer Fanfiction aber, scheint das wechseln der Sicht ein gern genutztes Instrument zu sein.
Warum?
Nun, ich kann hier nur anführen, warum ich mich gern verschiedener POVs bediene. Andere Autoren mögen andere Gründe dafür geben, aber die, welche ich hier aufzähle, dürften wohl zu dem am ehesten anzutreffenden Erklärungen gehören.
Objektivität:
Einer der Gründe die Sicht zu wechseln ist dem Leser einen objektiven Blick auf die Geschichte zu ermöglichen. Durch das Wechseln der Sicht werden dem Leser die Gefühls- und Gedankenwelt einer anderen Figur eröffnet. Hintergrundinformationen können zugänglich gemacht werden, Motive für eine Handlungsweise können erklärt werden, die aus der bloßen Interaktion der verschiedenen Figuren nicht zu erschließen gewesen wären.
Sympathiepunkte:
Verständnis oder, im besten Fall, Sympathie für einen Charakter ergibt sich fast zwingend aus dem Verständnis dessen, was eine Figur tut und warum sie es tut. Ein Bösewicht verliert viel von seinem Schrecken, wenn der Leser versteht, dass er mit seinem widerwärtigen Verhalten einer anderen Figur gegenüber nur die eigene Verzweiflung zu kaschieren versucht. Eine so vormals unbeliebte Figur gewinnt durch die Hintergrundinformation, die ein Sichtwechsel ermöglicht. So kann auch eine vormals unbeliebte Figur zum Star einer Geschichte werden. Warum man das wollen sollte?
Mehrere Schichten:
Jedes gute Tiramisu hat sie. Jede Lasagne erst recht. Mehrere Schichten. Mehrere Schichten in einer Geschichte bedeuten, dass die Figuren Motive haben, die dem Leser nicht gleich offen gezeigt werden, sondern welche erst nach und nach ans Licht kommen. Das schafft Spannung, verleiht den Figuren einer Geschichte Tiefe. Reine Klischees, also sehr einfach zu durchschauende, eindimensionale Figuren, können eine Geschichte interessant machen. Als Träger der Haupthandlung reichen sie aber kaum, denn ihr Handlungsspielraum ist wegen jener Eindimensionalität stark eingeschränkt. Spontane Wendungen im Verlauf der Geschichte sind mit reinen Klischees nicht möglich. Spannung aufbauen, den Leser überraschen oder eine Entwicklung der Charaktere ebenfalls nicht.
Sind die Charaktere ausgereift und verfügen über nicht immer offen gelegte Motive, kann es interessant werden, ihr Tun zu verfolgen. Mit Hilfe eines Sichtweisenwechsels können solche verschleierten Motive angedeutet oder enthüllt werden.
Verschlossene Tür:
Ein weiterer Grund die Sichtweise einer Figur gegen eine andere zu tauschen, ist rein praktischer Natur. Ich bezeichne es gern als “verschlossene Tür” Problem. Ausgangspunkt ist, dass eine Aktion stattfindet, bei der die Figur durch deren Augen der Leser den Verlauf bisher sehen konnte, nicht anwesend ist. Die Informationen, die aus dieser Szene gewonnen werden können, sind jedoch notwendig zum Verständnis der Geschichte. Ist es also unmöglich die bisher genutzte Figur in die Szene rein zu schreiben, muss die Aktion / Szene durch die Augen einer anderen Figur geschildert werden. Es muss ein weiterer POV eingeführt werden, um den Leser nicht wichtige Informationen vor zu enthalten.
Dies sind die für mich wichtigsten Gründe in einer meiner Geschichten einen Wechsel einzuarbeiten. Aber, damit stehe ich auf verlorenem Posten. In der deutschen Literatur ist ein Perspektivwechsel ungern gesehen. Im englischen Bereich hingegen ist er Normalität.
Wichtig für den Autor ist allerdings, woran erkennt er oder sie, dass er oder sie gerade dabei ist, die Sicht zu wechseln?
Ein paar Beispiele:
Bei einem meiner ersten Projekte fiel es mir sehr schwer das zu erkennen. Sowohl während des Schreibens, als auch noch bei der Überarbeitung des Textes. Es wollte mir einfach nicht auffallen. Heute fällt es mir etwas leichter zu erkennen, wann wo die Perspektive gewechselt wird. Nicht direkt beim schreiben. Das habe ich immer noch nicht hinbekommen. Aber zumindest im Nachhinein, bei der Überarbeitung des Textes fällt es mir auf.Wichtigstes Hilfsmittel für mich ist dabei die Frage: Was kann die Figur wissen, was nicht?Kann ich wissen, was ein anderer Mensch in einer Situation denkt oder fühlt? Nein. In der Regel ehr nicht. Es sei denn ihm oder ihr sind seine Gefühle ins Gesicht geschrieben. Trauer kann man gut erkennen. Ebenso gibt es sichere Anzeichen für Wut. Oder aber für Verlegenheit. Für all diese Emotionen gibt es Zeichen in den Gesichtern oder in der Körperhaltung der Menschen und somit auch der Figuren die man in den Geschichten agieren lässt. Aber genau darauf kommt es an. Wenn zwei Charaktere interagieren, dann muss entweder, durch kleine Hinweise, wie zum Beispiel zusammengekniffene Lippen und verschränkte Arme vor der Brust, via Körperhaltung klar gemacht werden, dass die Figur deren Sichtweise gerade abgemeldet ist, wütend ist, oder aber die Figur durch deren Augen wir die Handlung sehen kann lediglich Vermutungen darüber anstellen, warum das Gegenüber jetzt so handelt. Wobei derartige Vermutungen dann auch als solche benannt werden müssen. Also als:
“Sie hatte den Eindruck, dass er genervt und wütend war.”
Hier wird der Eindruck wiedergegeben, den die eine Figur von der anderen Figur bekommt. Worauf dieser Eindruck gestützt ist, ist unklar. Aber es wird deutlich, dass der Leser die Geschichte durch die Augen der einen Figur sieht, denn der eine, hier weibliche Charakter, bewertet den anderen, hier männlichen Charakter, beziehungsweise den Zustand seiner Laune, der hier mit “genervt und wütend” beschrieben wird. Deutlicher hätte man das herausstellen können in dem man es folgendermaßen beschrieben hätte:
“Laut fluchend kam er in den Raum getrampelt. Mit einem Ruck riss er den Erste Hilfe Kasten an der Wand auf und begann wild darin herumzukramen. Murmelnd und leise schimpfend warf er das, was er offensichtlich nicht brauchte, neben sich auf den Boden. Silvia hob den Kopf. "Was machst du denn da?”, fragte sie.
“Nichts.”, antwortete er einsibig, fuhr fort damit, den Inhalt des Kastens auf dem Boden zu verteilen.
“Geht das auch ein wenig leiser?”, erkundigte sich Silvia.
“Ich weiß nicht was du jetzt hast? Ich werde ja wohl noch mal reinkommen dürfen und ein Pflaster suchen dürfen! Oder ist das verboten?”, fuhr er sie an.
Silvia zuckte die Schultern. “Nein, an sich nicht. Aber wenn man so reingetrampelt kommt, wie ein wütendes Nashorn und das in so einer Lautstärke …”, sagte sie.
“Ich komme nicht reingestürmt, wie ein wütendes Nashorn!”, sagte er und eine Verpackung flog zurück in den Kasten.“
Hier wird die Wut dadurch verdeutlicht, dass sichere Anzeichen dafür geliefert werden. Also solche sind zu bennenen, dass der Raum in dem Silvia sitzt nicht leise, sondern "laut fluchend” und “trampelnd” betreten wird. Auf die Frage was los ist, erhält Silvia nur eine “einsilbige” Antwort. Wer auch immer der männliche Charakter ist, es wird deutlich, dass er nicht zur Konversation aufgelegt ist. Ein weiterer Hinweis ist das umherwerfen der Sachen und nicht zuletzt, dass wieder reinwerfen der Sachen in den Erste Hilfe Kasten. All das sind Anzeichen die dem Leser vermitteln, dass eine der Figuren offenbar schlecht drauf ist, Desweiteren erfährt der Leser auch, dass auch Silvia sich von der schlechten Laune anstecken lässt, was an ihrem Kommentar “Geht das auch ein wenig leiser?” zu sehen ist. Mit Bewegungen, also Körpersprache wird verdeutlicht, wie sich eine Figur fühlt. Zudem wird auch geklärt, auf wessen Seite man steht. Nämlich Silvias. Denn die Figur, welche hereingestürmt kommt, wird ihre Bewegungen wohl kaum auf die Art selbst beobachten. Würde die Szene aus der Sicht des hereinstürmenden geschrieben, wäre sie wohl so formuliert, dass er sich von den bissigen Kommentaren Silvias gestört fühlt. Soweit dazu was eine Perspektive ist. Nun noch ein paar Beispiele wie ein Perspektivwechsel aussieht. Das folgende Beispiel ist aus einem meiner Texte entnommen.
„Ich weiß nicht, Alice? Alice im Wunderland vielleicht?“ ,fragte Lotte mit amüsiertem Blick unter hochgezogenen Brauen.
„Alice?“, gab er in fragendem Ton zurück.
„Ja klar. Denn wo, wenn nicht wo als im Wunderland, könnten sich solche eigenartigen Sachen ereignen, dass ich einen bekannten,begehrten Engländer einfach so auf der Straße treffe? Demnach müsste ich wohl fest daran glauben, Alice im Wunderland zu sein.“
„Hmm … verständlich“, meinte nun Tom, jetzt etwas nervös. Sie hatte ihn erkannt, es war so klar gewesen. Es hatte ja so kommen müssen. „Ade du schöne Freiheit“, seufzte Tom. An Charlotte gewandt sagte er: „Nun Alice, da du weißt wer ich bin, was hast du vor?“
Um es etwas einfacher zu machen, habe ich die Wechsel, beziehungsweise die Perspektiven einfach mit einer anderen Schrift versehen.
Während der erste Teil des Texts aus Sicht Lottes geschildert wird, ist die andere Hälfte des Textes Tom zuzuordnen. Denn es sind seine Gedanken, die der Leser mitbekommt. Allein schon der Hinweis, dass er "nervös” ist, ist ein Hinweis auf einen Wechsel. Woher sollte, könnte Lotte wissen, dass ihr Gegenüber nervös ist, solange nicht berechtigte Hinweise, wie etwa Nägelkauen, sich hastig umsehe oder ähnliche Anzeichen, dafür vorliegen? Getreu dem Motto: Was kann eine Figur wissen?, müsste das “nervös” in diesem Abschnitt rausgestrichen werden. Direkt danach müssten Toms Gedankengänge daran glauben, wollte man diese Szene nur aus Lottes Sicht schreiben. Umgeschrieben müsste die Szene also lauten:
“Ich weiß nicht? Alice? Alice im Wunderland vielleicht?”, fragte Lotte mit amüsiertem Blick unter hochgezogenen Brauen. “Alice?”, gab er fragend zurück. “Ja klar. Denn wo wenn nicht im Wunderland, könnten sich solche eigenartigen Sachen ereignen, dass ich einen bekannten, begehrten Engländer einfach so auf der Straße treffe? Demnach müsste ich wohl fest daran glauben Alice im Wunderland zu sein.”. “Hmmm … Verständlich.”, meinte Tom und fuhr sich mit dem Finger hastig über den Mundwinkel.“
Abschließend noch zwei kurze Beispiele dafür, dass zu schnelle Wechsel der Perspektive zu Verwirrung führen können:
„Ruf mich nie wieder an Charlotte! Nie wieder!“ waren ihre letzten Worte.
„Geh endlich ran du Idiot!“ Charlotte trommelte wütend mit den Fingerspitzen auf der Kante ihres Bettes.
und:
Tom glaubte gleich zu platzen vor lauter Wut.
„Für den Verlust der Freundschaft bist du doch selbst verantwortlich! Ich wusste von keinen Bildern, von keinem Spiel! Also sieh zu wie du allein klar kommst. Ich werde dir nicht helfen. Ach und nur zu deiner Information, was auch immer Sania mit dem Kuss verbindet, ich mache mir nicht viel daraus! Aber genau das war ja auch schon Thema im Café, wenn ich kurz dein Gedächtnis auffrischen dürfte!“
Charlotte blieben der Atem und das Herz stehen.
„Stimmt, er sagte mir bereits dass er sich aus Sania nichts mache! Wie konnte ich das vergessen?“
Abschließend lässt sich sagen, dass der Wechsel der Perspektive ein Stilmittel ist, dass einen Text bereichert. Allerdings sollte der er zum besseren Verständnis nur eingesetzt werden, wenn es für den Leser nachvollziehbar ist, dass er die Szene jetzt aus den Augen einer anderen Figur verfolgt.