Ein Weihnachtsmärchen für Lotte

Hallo alle zusammen,

Weihnachten steht, unweigerlich, möchte man fast sagen, vor der Tür und ich dachte, weil ich wegen des ganzen Wohnungsstresses noch nicht wirklich Gelegenheit hatte mich auf Weihnachten einzustimmen, werde ich es jetzt statt mit der üblichen Masche (Plätzchen backen, Süßkram essen bis einem schlecht wird, Wham in Dauerschleife hören (müssen) und Dekoration auspacken und anbringen) es mit einer neuen probieren und euch auch daran teilhaben lassen. Wie bekannt ist, ist es knappe vier Wochen her, seit “Lotte in London” veröffentlicht wurde und irgendwie hat sie mich noch immer nicht ganz verlassen. Kann sie auch nicht, da ich im Januar eine Leserunde mit ihr auf Lovelybooks plane, und deswegen dachte ich, schaue ich einfach mal bei der Oberdiva vorbei und finde heraus, was im Hause Grottinger-Donoghue zu Weihnachten so geht. Also, viel Spaß mit Szenen aus Charlottes Weihnachtsmärchen, die euch hier bis zur Leserunde auf Lovelybooks begleiten werden.

Scene 2

Als Charlotte sein verunstaltetes „Dankeschön”, was eher nach „Gankekön“, klang, hörte musste sie noch mehr lachen, bis die Tränen, die sie vorher unterdrückt hatte doch kamen.

„Ich sagte, sie ist riesig geworden“, wiederholte sie auf Englisch und wies auf Regan.

„Ja“, pflichtete er ihr bei.

„Und so spindeldürr“, sagte Charlotte und umfasste das Handgelenk Regans. „Geben die euch da nichts zu essen?“

„Mum!“, nörgelte Regan und entzog sich ihrem Griff.

Charlotte lachte verlegen und folgte ihrer Tochter, die in den Flur stapfte, um sich dort ihre Sportjacke und die Turnschuhe auszuziehen.

„Wann gibt es Kaffee?“ Regan blickte von ihren Schnürsenkeln auf und warf den Zopf, der ihr ins Gesicht fiel, über die Schulter.

„Weiß nicht. Sobald du fertig bist?“ Charlotte griff nach der Jacke, die Regan getragen hatte. „Was ist das denn?“, fragte sie, als sie eine Spur brauner Flecken die sich über die Vorderseite der Jacke zogen, bemerkte. „Da auch“, meinte sie und deutete auf die Hose ihrer Tochter.

Regan blickte an sich herunter. „Das?“, fragte sie. „Ach, nur irgendwelche Flecken. Muss wohl vom Laufen gekommen sein.“

Charlotte runzelte die Stirn. „Vom Laufen?“, fragte sie und nahm Regans Hose näher in Augenschein. „Das sieht nicht nach Schlammspritzern …“

„Doch, sind es aber“, widersprach Regan und machte sich los. „Außerdem ist das egal, ich hau das eh gleich in die Wäsche. Ich will mich noch vor dem Kaffee umziehen.“ Und schon lief sie die Treppe hoch.

Als Charlotte die Küche betrat, rieb sie die Schneeflocke, die an der Kette um ihren Hals hing, zwischen Daumen und Zeigefinger.

Thomas, der am Küchentresen saß und in ein Buch vertieft gewesen war, blickte auf. „Alles in Ordnung?“

„Wie?“ Charlotte ließ den Kettenanhänger los und versuchte sich an die Frage zu erinnern, die er ihr eben gestellt hatte. „Oh, ja, alles bestens“, meinte sie und setzte Wasser auf.

Kurze Zeit darauf kam Regan, in eine dunkle Hose und eine weiße Bluse gekleidet in die Küche hinunter. Das Haar trug sie jetzt offen, so dass es ihr über die Schultern fiel.

„Sieht gut aus.“ Charlotte hörte für einen Moment auf, die Plätzchen auf einem Teller zu arrangieren, um durch die glatten Haare Regans zu fahren.

„Gibt´s auch Stollen?“, fragte Regan, die mit unverhohlener Neugier die Plätzchen ansah. „Ich hab so einen Hunger.“

„Nicht in diesem Jahr.“

Regan, die sich ein Plätzchen geschnappt hatte, sagte mit halbvollem Mund: „Schade.“

„Wir essen gleich“, ermahnte Charlotte und verhinderte mit einem Schlenker, dass ihre Tochter sich noch ein zweites Plätzchen vom Teller schnappen konnte. „Wenn du helfen würdest, wären wir schneller.“

Mit halblautem Gemurmel rutschte Regan vom Stuhl und machte sich daran Charlotte beim Decken des Tisches zu helfen.

Ihre Hände zitterten so sehr, dass sie drei Anläufe brauchte, um die letzte Kugel an den Baum zu hängen, andernfalls wäre das Glasgebilde gefallen und auf den dunkelgrauen Fliesen des Wohnzimmers zerschellt. Und obwohl dieses spezielle Exemplar einer Weihnachtsbaumkugel wenig ansehnlich war, wäre der Verlust für Charlotte nicht wieder gut zu machen gewesen, denn Regan hatte die Kugel vor vier Jahren anlässlich eines Weihnachtsmarktbesuches selbst bemalt. Sehr bunt, die Figur des Schneemanns in warmen sonnengelb und die des Weihnachtsmanns in Weiß, Rot und lachsfarben gehalten, verzerrt, als habe Picasso persönlich Hand angelegt.

Charlotte musste ein paar Tränen wegwischen, als sie dieses hässliche und doch unbezahlbare Exemplar einer Kugel in dem Baum hängen sah und sich daran zurückerinnerte, wie viel Mühe es ihre Tochter gekostet hatte, die Kugel zu bemalen, wie oft der Pinsel abgerutscht war, wie sie missmutig das Gesicht verzogen hatte, weil die Figuren nicht so wurden, wie sie das wollte und wie stolz sie am Ende gewesen war, als sie ihr die Kugel präsentiert hatte.

Und wie sie, Charlotte, nicht weniger stolz gewesen war, auch wenn sie damals mit einem kargen Lob darüber hinweggetäuscht hatte.

Sie trat einen Schritt zurück, um den Baum und ihre Dekorationsarbeit in der Gänze betrachten zu können und seufzte, als sie daran dachte, wo ihre Tochter jetzt war. Weit weg von ihr. Irgendwo in der englischen Pampa.

„Mummy, we’re home!“

Noch bevor Charlotte realisieren konnte, was genau los war, stürmte ein Mädchen mit einem dicken Pferdeschwanz aus glatten, kastanienbraunen Haaren und von Kopf bis Fuß in legerer Sportkleidung auf sie zu. Charlotte wich einen Schritt zurück, als die Fremde sich strahlend in ihre Arme werfen wollte.

„Regan?“

„Ja!“

Charlotte schlug eine Hand vor den Mund und starrte die strahlende Unbekannte an. Sie ließ ihre Blicke über das fremd wirkende Gesicht wandern, auf der Suche nach Ähnlichkeit mit dem Kind, dass sie vor gut einem halben Jahr in der englischen Landschaft hatte stehen lassen, bis sie in dem Ausdruck der Augen, der eine Mischung zwischen Empörung und Unsicherheit war und dem halb geöffneten Mund, sowie der steilen Falte zwischen den Augenbrauen fand, wonach sie suchte. Sie blinzelte, als sie merkte, wie ihr die Tränen kamen.

„Mum? Alles okay?“

„Du bist so…“, sagte sie auf Deutsch, schüttelte den Kopf und trat auf Regan zu, um sie in den Arm zu nehmen. „Wo ist das halbe Kind, das ich da gelassen habe?“ Sie lachte verlegen. „Sieh dich nur an. Tom! Sieh sie dir an! Ist sie nicht riesig?“

Thomas stand eine Hand auf den Küchentresen gestützt. In der anderen hielt er seinen Schal. Er zuckte eine Schulter.

„Sorry”, sagte er, „Aber du weißt doch, mehr als ‘Ein Pils, bitte’ und 'Dankeschön’, kann ich nicht in Deutsch.“

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